Georgien liegt an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien und ist eines der ältesten Kulturländer der Welt. Aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage war das kleine Georgien jahrhundertelang ein Zankapfel zwischen den Grossmächten, wie z.B. Persien, der Türkei, Russland und der Mongolei. Wie durch ein Wunder hat es seine Eigenständigkeit bewahrt und durch die Zeit hindurch eine einzigartige Kultur entwickelt. Byzantinische, persische, aber auch europäische Einflüsse hat die georgische Kultur über Jahrhunderte hinweg aufgenommen und zu einem eigenständigen, faszinierenden Amalgam verschmolzen. Davon zeugen nicht nur die georgische Sprache mit ihrem eigenen Alphabet und die Literatur, die 1'500 Jahre alt ist. Wohl nirgendwo sonst in Europa wird man auf so engem Raum einen derartigen kulturellen Reichtum und eine vergleichbare Vielfalt in der Lebensart, der Landschaft, der Flora und der Fauna entdecken können. Und dennoch wissen viele Europäer relativ wenig über Georgien.
Vor dem eisernen Vorhang war Tbilissi das Zentrum Transkaukasiens für zeitgenössische Kunst. Danach wurde die georgische Kultur 70 Jahre lang isoliert und erwachte erst nach der Öffnung der Grenzen wieder zu neuem Leben. Der Westen hingegen nahm davon kaum Kenntnis. Europa hatte vergessen, wie rege und lebendig die Verbindungen zu Georgien einst gewesen waren.
Als Gastland der Frankfurter Buchmesse stand Georgien 2018 im Zentrum der Aufmerksamkeit. Viele Westeuropäer haben Georgien und seine Kultur dank dieses Auftritts zum ersten Mal bewusst wahrgenommen. Georgien hatte seinen Platz als Kulturnation auf der Weltkarte neu gefunden und ist immer noch dabei, sich dort zu positionieren.
„Balkon Europas“, „Europa in Asien“, „Georgien, Schmelztiegel der Kulturen“ – so beschreibt man Georgien in der deutschsprachigen Presse. Georgien strebt nach Europa. Doch der Weg dorthin gestaltet sich schwierig. Seit 2009 gehört Georgien zur „Östlichen Partnerschaft“ der EU. Ein Assoziierungsabkommen mit der EU wurde im Juni 2014 geschlossen. Georgien ist heute die fortschrittlichste der Südkaukasus-Republiken und hat eine sehr lebendige Kulturszene, die sich zwischen sowjetischem Erbe und westlicher Moderne bewegt.
Die Kunst- und Kulturszene in Tbilissi boomt. Die Stadt wird auch das neue Berlin genannt. Die Kulturschaffenden beschäftigen sich in ihren Werken intensiv mit Kriegstragödien und gesellschaftlichen Umbrüchen der jüngsten Vergangenheit. Das Land befindet sich in einer Phase der Neuorientierung zwischen Westen und Osten, zwischen Tradition und einer Zukunft als Teil Europas. Dabei entsteht viel Neues. Diese aufgeladene Atmosphäre ist es, die viele Menschen derzeit in den Kaukasusstaat zieht.
Der Schriftsteller Stephan Wackwitz hat als
Leiter des Goethe-Instituts fünf Jahre lang in Georgien gelebt. In seinem Buch
„Die vergessene Mitte der Welt“ (2014), verglich er die Atmosphäre der
Hauptstadt Tiflis mit den Filmen Federico Fellinis aus den sechziger
Jahren. Wie Italien damals, so steht
Georgien heute an der Schwelle zur Moderne: „Wo
sich nicht nur Westen, Osten und Süden, sondern auch alle Zeiten magisch zu
mischen scheinen“.
Text: © Elene Chechelashvili
© Georgische Kulturplattform, Zürich 2020–2024